Konzept

Grundsätzliches

Größere OECD-Studien wie IGLU oder PISA haben in den letzten zehn Jahren für die Lesefähigkeit von Grundschulabsolventen zum Teil sehr ernüchternde Ergebnisse gebracht. Unbestritten ist aber die Lesefähigkeit und als Folge davon das Leseverständnis als ein wirkmächtiger Prädiktor für das Gelingen von Bildungsprozessen während und nach der Schulzeit. Um diese sich im Optimalfall auf die gesamte Lebenszeit erstreckenden Lernprozesse fruchtbarer zu gestalten, scheint eine wirkungsvolle Weichenstellung in der Schule angezeigt. Dies setzt ein effizientes Handeln voraus. Aus diesem Grund sieht dieses Konzept es als Notwendigkeit an, in einem Schulentwicklungsprozess auf diese Befunde zu reagieren.

Es werden deshalb bei den beschriebenen Maßnahmen nach solchen auf den Ebenen der Unterrichtsentwicklung, der Personalentwicklung und der Organisationsentwicklung unterschieden. Weiterhin stellt sich die Frage, ob nicht ein Teil von bisher bestehenden Programmen wie Lesewettbewerbe, Besuch von Bibliotheken, Vorbereitung von Thementischen etc., die hauptsächlich auf Lesemotivationsförderung zielen, primär bei mittleren und guten Lesern wirkt, die schwächsten Lesegruppen aber anders besser zu erreichen wären. Aus diesem Grunde schlägt dieses Konzept vor auch die Förderung zum Teil neu zu denken und an die speziellen Bedürfnisse der Schwächsten anzupassen.

Individualisierung als notwendiger Grundsatz

Kein Geheimnis ist auch, dass die Schülerinnen und Schüler mit recht unterschiedlichen Fähigkeiten auf dem Gebiet des Lesens in die weiterführenden Schulen eintreten. Ebenso gilt es nicht nur in der Leseforschung als belegt, dass für verschiedene Ausprägungsformen von Problemen auch verschiedene Hilfs- und Fördermaßnahmen adäquat sind. Problematisch ist es jedoch für Schulen, folgende Maßnahmen zu treffen, die für eine Einordnung in die Ausprägungsformen von Leseförderbedarfen obligatorisch sind:

  • Die Entscheidung darüber, welche Schülerinnen und Schüler Förderbedarf haben (Screening).
  • Die genauere weiterführende Diagnose von (Teil-)Fähigkeiten im Zusammenhang mit dem Lese- und Verständnisprozess und die damit zusammenhängenden Personalentwicklungsmaßnahmen.
  • Eine auf die Diagnose folgende individuelle Standortbestimmung der betroffenen Schülerinnen und Schüler in einem geeigneten Kompetenzraster, das diese (Teil-)Fähigkeiten – wenn möglich – auch mit dazugehörigen Indikatoren abbildet.
  • Die Erstellung von Förderplänen für die defizitären (Teil-)Fähigkeiten und die Schaffung von organisatorischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Förderung.

Genau in diesen vier Bereichen soll dieses Lesekonzept ansetzen und Kollegien und Schulleitungen helfen, die im Bereich der Leseförderung aktiver oder effizienter werden wollen.

Auch vor dem Hintergrund der neuen Lehrpläne und der darin verwirklichten Kompetenzdenkweise macht es keinen Sinn, Lesediagnostik und Förderung an Jahrgangsstufen gebunden zu denken, da sich Förderbedarfe ebenfalls nicht an Jahrgangsgrenzen halten. Aus diesem Grund muss die Leseförderung individualisiert organisiert werden. Sicherlich ist es auch sinnvoll, Schülerinnen und Schüler über Klassen- und Jahrgangsgrenzen hinweg zur Förderung zusammenzufassen, wofür es allerdings schulorganisatorischer Maßnahmen bedarf, die im weiteren Verlauf dieses Lesekonzepts erläutert werden.

Das vorliegende Konzept soll stetig weiterentwickelt werden und startet im Schuljahr 2018/19 mit dem Screening von 5. und 6. Klassen an der Staatlichen Realschule Regen im Bayerischen Wald. Dahinter liegt die Überlegung die Eingangssituation an der neuen Schulart festzuhalten. Weitere Schulen sind an dem Programm interessiert und setzten bereits ebenfalls im laufenden Schuljahr erste Diagnose- und Fördermaßnahmen um.

Längerfristig soll das Programm schulartübergreifend gestaltet sein, was das angelegte Kompetenzraster bereits andeutet. Auch eine Ausweitung auf höhere Jahrgangsstufen und vor allem auf eine Fächergrenzen übergreifende Förderung ist angedacht. Ein Anliegen, welches auch die Initiative #lesen.bayern (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 2018) verfolgt.

 

Theoretischer Hintergrund

Um einen wirkungsvollen Plan zur Lesediagnostik und -förderung vorlegen zu können, ist es nötig, den aktuellen Stand über die Theorie des Lesens und der Aneignung der Lesefähigkeiten mit einzubeziehen. Das Wissen vor allem auch über empirisch nachgewiesene Zusammenhänge hat – auch bedingt durch andere Forschungsparadigmen an bayerischen Universitäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – noch nicht hinreichend Einfluss auf die Ausbildung der Mehrheit der jetzt an den Schulen unterrichtenden Lehrkräften gefunden. Das vorliegende Lesekonzept orientiert sich deshalb am aktuellen Stand der deutschsprachigen Forschung und versucht auch Erkenntnisse der englischsprachigen Literatur zu integrieren.

Das Mehrebenenmodell des Lesens (Rosebrock & Nix, 2017) stellt eine in der deutschsprachigen Literatur viel verwendete Festlegung der Ebenen des Lesens vor, wobei die schulische Praxis versucht auf alle drei Ebenen einzuwirken.

Die große Stärke des Modells ist, dass neben den rein kognitiven Einflussfaktoren auf das Lesen, die sich auf der Prozessebene befinden, auch die Personenfaktoren des Lesers (Subjektebene) und seine soziale Umgebung beachtet wird. Eine ausführlichere Erklärung dieses Modells liefert auch eine Internethandreichung der Initiative lesen.bayern (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 2018).

Wie bereits eingangs dargestellt, setzen viele der Leseförderprogramme, die an Schulen durchgeführt werden, auf der Subjektebene und dort an der Lesemotivation an. Doch leider sind motivationale Prozesse nicht immer leicht zu beeinflussen. Auch die soziale Ebene kann gerade bei schlechten Lesern mit ungünstigem sozioökonomischen Hintergrund nur sehr schwierig zum Positiven hin entwickelt werden, auch wenn Schule durchaus einen Einfluss aauf die Anschlusskommunikation hat.

Deshalb erscheint das oben dargestellte Modell in vielerlei Hinsicht gerade für die schulische Diagnostik und die Ableitung von individuellen Förderplänen vor allem auf der Prozessebene als zu grob strukturiert.

Auch andere Ansätze, etwa die theoretische Struktur der Lesekompetenz, wie sie in den PISA-Studien Verwendung findet, sind aufgrund ihrer primären Zielsetzung der Lieferung international vergleichbaren Messergebnisse und damit auswendiger Messung eher schwer im schulischen Kontext ökonomisch einsetzbar.

Abhilfe kann hingegen ein Blick in die amerikanische, stark empirisch geprägte Forschung schaffen, die 2015 mit David Kilpatricks „Essentials of Assessing, Preventing, and Overcoming Reading Difficulties“ eine gute Zusammenfassung des Forschungsstands und ein zunächst einfaches Modell des Leseverständnisses liefert und nur zwei Faktoren, nämlich das Lesen auf Wortebene und das Sprachverständnis unterscheidet. Diese werden dann allerdings unter Zuhilfenahme ihrer empirisch nachgewiesenen Einflussfaktoren näher erläutert, sodass sich zahlreiche Einflussfaktoren ergeben.

Hervorzuheben ist außerdem, dass zwar bekannt ist, dass sich der Einfluss der Faktoren bei lautem und stillem Lesen erheblich unterscheidet, eine quantifizierbare Veränderung für alle hier genannten Faktoren wird sich aber durch die Forschung erst in Zukunft ergeben. Wichtig erscheint allerdings, beide Situationen (laut/leise) in die Diagnose mit einfließen zu lassen.

Es soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die einzelnen Einflussfaktoren wiederholt empirisch nachgewiesen worden und somit auch für den Schulalltag bei aller gebotenen Vorsicht noch die verlässlichsten Ansatzpunkte für Diagnose und Förderung bieten.

Im Bereich des Sprachverständnisses ergeben sich ebenfalls größtenteils signifikante Zusammenhänge, wobei jedoch das visuell-räumliche Vorstellungsvermögen und die Verständnisüberwachung keine deutlichen Einflussfaktoren darstellen und daher im weiteren Verlauf vernachlässigt werden.

Leider testen einige der deutschsprachigen diagnostischen Instrumente oft ausschließlich das Lesen auf Wortebene und lassen das Sprachverständnis zumindest zum Teil außer Acht. Letztendlich ist aber die relevante Zieldimension das Leseverständnis, das sich aus beiden Einflussrichtungen speist.

Aus diesem Grund schlägt dieses Konzept im weiteren Verlauf eine mehrstufige Diagnostik vor, deren erste Stufe von allen Schülerinnen und Schülern mindestens zweimal im Jahr durchlaufen wird. Diese erste Stufe muss die beiden Faktoren „Lesen auf Wortebene“ und „Sprachverständnis“ abbilden und soll günstig und ökonomisch im Klassenverband in einer Schulstunde mit einer Lehrkraft durchführbar sein. Aus diesem Grund sind Abstriche bei den Testgütekriterien unausweichlich. Dennoch können die Gruppen an Schülerinnen und Schüler ermittelt werden, die zumindest eine Standardabweichung unter dem Mittel aus mehreren Schulen liegen und so erhöhten Förderbedarf haben. Natürlich ist uns bewusst, dass ein Instrument mit einer Normstichprobe im Hintergrund genauer messen kann und bessere Vergleichbarkeit liefert, allerdings sind dann bei größeren Schulen enorme Kosten mit den Messungen verbunden. Deshalb erscheint es aus pragmatischen Überlegungen heraus sinnvoll hier einen Mittelweg zu gehen, der aber trotzdem die Ziele erfüllt. Im Zweifelsfall werden eher zu viele als zu wenige Schülerinnen und Schüler in die zweite Diagnosestufe geschickt.