Diagnose

Ablauf der diagnostischen Maßnahmen

Um den vermuteten Defiziten an grundlegenden Fertigkeiten auf die Spur zu kommen, braucht es eine genauere Diagnose als bislang an den meisten Schulen üblich. Während bisher nur die auffälligsten Kinder den Weg in eine Untersuchung z.B. auf das Vorliegen einer Legasthenie fanden und die restlichen Schülerinnen und Schüler eher durch die Eindrücke der Lehrkräfte im Unterricht in ihrer Lesefähigkeit beurteilt wurden, möchte dieses Konzept gerade in diesem Bereich eine umfassendere, evidenzbasierte Diagnose ermöglichen.

So sollen am Beginn des neuen Schuljahres Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 5 und 6 völlig ohne Notendruck in ihrer Lesefähigkeit in den Dimensionen Leseflüssigkeit und Textverständnis beurteilt werden. Außerdem wird das Hörverstehen, ähnlich wie bereits im Fach Englisch, genauer analysiert.

 

1. Stufe Diagnostik: Klassenscreening

Um sich ein möglichst umfassendes Bild bei gleichzeitig gebotener leichter Durchführbarkeit zu verschaffen, schlägt diese Konzept ein erstes Screening im Klassenverband für die Klassen der 5. und 6. Jahrgangsstufe möglichst bald nach Beginn des neuen Schuljahres vor. Dabei lesen die Schülerinnen und Schüler einem Partner zwei verschieden schwere Texte laut vor. Die Textschwierigkeit wurde dabei durch das „Regensburger Analysetool für Texte“ (Wild & Pissarek) ermittelt. Während ein Schüler bzw. eine Schülerin vorliest, stoppt ein Mitschüler die Zeit, die am Ende notiert wird.

Das Textverständnis wird nach dem Lesen durch Multiple Choice-Fragen geprüft. Die Schüler werden dabei durch Testvorlagen durch die Stunde geleitet, so dass es zu keinen größeren organisatorischen Fehlern kommt. Insgesamt ist der Test in einer Schulstunde durchführbar und auch die Auswertung hält sich für die Deutschlehrkraft in Grenzen. Anzumerken bleibt, dass es das Screening in zwei Varianten gibt, d.h. von den beiden Schülerinnen oder Schülern, die zusammen den Test durchführen, bekommt eine/r die Variante A und eine/r die Variante B. Zum zweiten Screeningzeitpunkt im Februar ist es dann umgekehrt.

Nach der ersten Durchführung ergaben sich die im Anhang befindlichen Grenzwerte.

Durch den zweiteiligen Test können beide Bereiche des zugrundeliegenden theoretischen Modells abgebildet werden, auch wenn die oben genannten Einschränkungen zu beachten sind.

Ziele dieses ersten Screenings sind die Ermittlung der Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem Förderbedarf, die dann genauerer Diagnose unterzogen werden, und die Schaffung einer Datengrundlage für die jeweilige Deutschlehrkraft für die restliche Klasse. Unabhängig von den schwächsten Leserinnen und Lesern kann sie so den weiteren Leseunterricht auch in Absprache mit den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fächern nach Schwerpunktbedarfen planen.

Zu den vorliegenden Testtexten:

Im Moment liegen die in der Tabelle unten angeführten Texte vor. Die Schwierigkeitsindizes finden Sie in der folgenden Tabelle. Erklärungen zu den Indizes finden Sie hier: Wild und Pissarek (2016). Es sind also zwei etwas leichtere und zwei schwerere Texte enthalten.

Texttitel Anzahl Wörter Anzahl Sätze LIX RIX FLESCH WSTF gSmog Neben-sätze Passiv-sätze
Die Schule in Bayern 150 11 41.64 5.71 63.01 6.69 6.42 3 2
Wie lernt man das Lesen? 150 10 41.67 5.65 62.82 7.60 7.33 1 3
Unsere Augen 150 7 51.43 6.85 50.15 10.22 10.07 3 3
Tobias kommt in die Schule 150 7 50.10 5.81 48.98 10.22 10.07 2 0

 

Dabei wurde in erster Linie darauf geachtet, dass je zwei Texte gleich lang und in etwa gleich schwer sind. Hier wurden vor allem die Indizes LIX und RIX zur Orientierung herangezogen. Entgegen anfänglicher Überlegungen werden Verständnisfragen erst nach dem lauten Lesen des Textes schriftlich gestellt. Um den Anteil der Gedächtnisleistungen möglichst gering zu halten, wurde auf kurze Texte Wert gelegt, die in ca. einer Minute von guten Fünftklässlern zu lesen sind.

2. Stufe Diagnostik: Einzeldiagnose

Mit den durch das Klassenscreening ermittelten schwächeren Lesern wird ein umfangreicheres diagnostisches Verfahren durchlaufen, welches in Abbildung 5 dargestellt ist.

Abbildung 5: Ablauf und Inhalte der Einzeldiagnose

Die Menge an von dieser Diagnosestufe betroffenen Schülerinnen und Schülern dürfte bei etwa 10-15% eines Jahrgangs liegen, wobei im ersten Jahr Abstimmungen zwischen den beteiligten Schulen nötig sein werden.

Teilweise können die Teile dieser Diagnosestufe auch in kleineren Gruppen gemacht werden [Teile des ZLT II (Petermann & Grissemann, 2015) und der Hörverständnistest]. Lediglich die Blickbewegungsmessung kann bei maximal zwei Personen simultan erfolgen. Insgesamt dauert eine Testung somit 60-80 Minuten.

Im folgenden Verlauf werden die Einzelteile der zweiten Diagnosestufe gesondert beschrieben.

Zürcher Lesetest II (ZLT II)

Der ZLT bildet ein bewährtes und vor kurzem aktualisiertes Testinstrumentarium, das einen großen Teil der Zieldimensionen aus unserem Theoriemodell abdeckt. Besonders gut wird einer der aus Forschungssicht entscheidenden Bereiche – die phonologische Bewusstheit – abgedeckt. Das Testmanual ist entsprechend genau und es liegen normierte Tabellen für die Einordnung der Schülerinnen und Schüler für alle Teiltests vor. Neben der Anschaffung des Tests fallen im Moment pro Testung 3,60 € pro Schüler für den Protokollbogen, die Fehleranalyse und die Silbentrennungsaufgabe an.

Laut Manual kann der ZLT II in ca. 15-35 Minuten durchgeführt werden, im Realschulbereich wird die Testlänge eher an der unteren Grenze der Zeit liegen.

Hörverständnistest

Aus dem EU-geförderten ELIS [Evidenzbasierte Leseförderung in Schulen, (KPH Graz)] liegen zahlreiche professionell eingesprochene Text in drei verschiedenen Geschwindigkeiten vor. Dadurch lässt sich die Schwierigkeit problemlos an die Erfordernisse der Realschule anpassen. Zu den gesprochenen Texten wurden Fragenkataloge für das Multiple-Choice-Verfahren entwickelt, die sich stark an den Hörverständnistests im Fach Englisch orientieren. Dabei wurden zu zwei verschiedenen Schwierigkeitsstufen je zwei Texte mit dem o.g. RATTE-Tool in ihrer Schwierigkeit bewertet und mit den Verständnisfragen kombiniert. So liegt auch hier für einen etwaigen Re-Test eine weitere Ausführung vor.

Der Test lässt sich ca. in 2 x 5 Minuten durchführen und kann auch in der Gruppe abgehalten werden, wenn sichergestellt ist, dass kein Abschreiben möglich ist.

Leiselesetests

Die Leiselesetest werden an einem Computerarbeitsplatz durchgeführt und mittels eines Blickbewegungsmessgeräts überwacht. Dabei findet ein Eyetracker mit 150 Hz (s. Abb.) Verwendung. Den Probanden werden dabei in zufälliger Reihenfolge 60 Sätze zum Lesen präsentiert, die zur Hälfte fehlerfrei sind und zur anderen Hälfte einen von drei Fehlertypen (Beugungsfehler, lexikalische Fehler, orthografische Fehler, die durch Phonemstrukturen begründet sind) enthalten. Die Messung und Fehlertypografie richtet sich nach einem Vorgehen, das Małgorzata Szupica-Pyrzanowska 2018 in Warschau im Rahmen der 6. Polnischen Eye-Tracking-Konferenz vorgestellt hat.

Die Durchführung und Auswertung des Tests muss allerdings durch Fachpersonal erfolgen, das im Umgang mit Blickbewegungsmessgeräten und der zugehörigen Software geschult ist.Schülerinnen und Schüler, die Fehler erkennen, verharren länger bei dem entsprechenden Fehlerwort. Dadurch lässt sich nun auch auf Fehler, die ausschließlich oder auch beim leisen Lesen auftreten, rückschließen. Die Aufzeichnung und statistische Auswertung erfolgt mit Hilfe der Freeware-Software Ogama (Voßkühler, 2015). Bei Interesse am Bereich der Blickbewegungsforschung sei die kurze Zusammenfassung am Ende dieses Kapitels und das Standardwerk aus diesem Bereich empfohlen: Holmqvist und Andersson (2017).

Die eigentliche Testdurchführung dauert etwa 35 Minuten inkl. der nötigen Kalibrierung.

Re-Test zum Schulhalbjahr

Nach der 2. Diagnosestufe werden für die betroffenen Schülerinnen und Schüler je nach ihrem Fähigkeitsprofil individuelle Förderpläne mittels der Einordnung in ein Kompetenzraster erstellt. Diese Pläne werden dann in der Schule in sog. Lernbürostunden und auch zuhause bearbeitet (s. eigenes Kapitel „Förderung“).

Um die Maßnahmen, die in der Förderphase ergriffen wurden, auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen, wird die Diagnosestufe 1 zum Halbjahr mit der ganzen Klasse wiederholt. Sollten weitere Tests angezeigt sein, kann auch bei einzelnen Schülerinnen und Schülern die Stufe 2 der Diagnose teilweise oder ganz wiederholt werden.